Das erste Kapitel 2
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2. Mai 2020
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Der Nebel verpackte den Berg, auf dem das Schloss stehen musste. Kein Licht drang durch seinen nächtlichen Wall. K. stand auf der Holzbrücke zwischen der Landstrasse und dem Dorf. Sein Blick lag in der Leere über dem Schnee.
Das Wirtshaus war noch nicht geschlossen, ein Zimmer zu mieten aber gab es nicht. Der Wirt zeigte auf die Treppe zum Dachboden. Es schien, als fehle ihm die Zeit, um zu sprechen. K. nickte, stieg hinauf, kehrte mit einem Strohsack zurück und legte sich neben den Ofen hin. Die Bauern störten ihn nicht. Sie sassen vor Bieren und schwiegen. Ihre Gestalten in den sinkenden Blick gefasst, glitt K. in den Schlaf.
Dann wurde er wieder geweckt. Vor ihm stand der Wirt, daneben ein junger Mann im Anzug. Dessen schmale Augen waren von schwarzen Brauen gesäumt, die jeder Bewegung seines Gesichtes einen maskenhaften Zug verliehen. Einige der Bauern hatten ihre Sessel umgedreht. Der junge Mann entschuldigte sich, K. geweckt haben zu müssen und stellte sich als Sohn des Schlosskastellans vor. Dann legte er die Hände ineinander und kippte den Kopf.
» Dieses Dorf ist im Besitz des Schlosses. Wer hier wohnt oder übernachtet, wohnt oder übernachtet gewissermassen im Schloss. Um das tun zu dürfen, bedarf es der Erlaubnis des Grafen. Sie aber haben diese Erlaubnis nicht erhalten, nicht nach meinem Stand der Kenntnis. «
K. hatte sich inzwischen auf die Knie gestemmt und seinen verrutschten Scheitel nachgezogen.
» Hier ist ein Schloss? «
» Allerdings «, sagte der junge Mann langsam, während einige der Bauern den Kopf schüttelten, » das Schloss des Grafen Westwest. «
» Und man muss eine Erlaubnis haben, um hier zu übernachten? «, fragte K., als wolle er sich davon überzeugen, dass er seinen Träumen entkommen war.
» Die Erlaubnis muss man haben «, antwortete der junge Mann spöttisch. Dann drehte er sich zu den Bauern um und streckte die Arme aus. » Oder muss man die Erlaubnis etwa nicht haben? «
» Ich werde mir die Erlaubnis holen «, sagte K. gähnend und schob die Decke von seinen Beinen.
» Von wem denn? « fragte der junge Mann.
» Na ja, vom Grafen «, sagte K.. » Was bleibt mir anderes übrig… «
» Jetzt um Mitternacht die Erlaubnis vom Grafen holen?« rief der junge Mann empört.
» Ist das nicht möglich? « fragte K. gleichmütig. » Haben Sie mich deswegen geweckt? «
Der junge Mann wurde wütend. » Elender Landstreicher!« rief er. » Ich verlange Respekt vor der gräflichen Behörde! Ich habe Sie geweckt, um Ihnen mitzuteilen, dass Sie das gräfliche Gebiet sofort verlassen müssen. «
» Muss ich das «, seufzte K. und legte sich auf den Strohsack zurück. » Guter Mann: Sie verhalten sich - mit Verlaub - etwas aufbrausend, aber darüber möchte ich zu dieser Stunde hinwegsehen. Weiter muss ich Ihnen mitteilen, dass ich der Landvermesser bin, nach dem der Graf hat schicken lassen. Meine Assistenten werden morgen nachkommen. Sie bringen die Werkzeuge und Apparaturen mit. Ich wollte mir den Spaziergang durch den Neuschnee nicht entgehen lassen. Leider bin ich dabei einige Male vom Weg abgekommen, sodass es spät geworden ist. Dass ich mich zu dieser vorgerückten Zeit nicht mehr im Schloss melden konnte, war mir schon vor Ihrer Belehrung bewusst. Es schien mir daher angebracht, in diesem Nachtlager ein wenig Schlaf zu finden. Und Sie haben dafür gesorgt, dass es tatsächlich nur wenig war. Damit sollten alle Fragen geklärt sein. Gute Nacht, meine Herren.« K. zog die Decke über die Brust und drehte sich zum Ofen ab.
» Landvermesser? « fragte es hinter seinem Rücken, dann kehrte allgemeine Stille ein. Der junge Mann allerdings wandte sich dem Wirt zu. Sein Ton war genug gedämpft, um als Rücksichtnahme auf K.s Schlaf zu gelten - und laut genug, um ihm verständlich zu sein: » Ich werde telefonisch anfragen. «
Es gab ein Telefon im Wirtshaus? Nicht schlecht, etwas überraschend zwar, aber im Ganzen doch zu erwarten. Es stellte sich heraus, dass das Telefon neben dem Ofen befestigt war. Als sich K. zuvor hingelegt hatte, war es seinem müden Blick entwischt. Wenn nun der junge Mann telefonieren musste, konnte er hier beim besten Willen nicht schlafen. Klar, er hätte sich sträuben können oder so tun, als ob er schlief, aber das schien ihm unsinnig. Also drehte er sich in die Rückenlage zurück und beobachtete, wie die Bauern zusammenrückten, um sich zu besprechen. Ein Landvermesser kam nur selten ins Dorf. Die Tür der Küche öffnete sich und in ihr erschien - türfüllend - die mächtige Gestalt der Wirtin. Sogleich wuselte der Wirt heran, um ihr vom bisherigen Geschehen zu berichten. Dann begann das Telefongespräch. Ein Unterkastellan, einer der Unterkastellane, ein Herr Fritz, nahm den Anruf entgegen. Der junge Mann, der sich als Schwarzer vorstellte, erzählte, wie er K. gefunden hatte und beschrieb ihn als Mann in den Dreissigern, zerlumpt und auf einem Strohsack schlafend, sein winziger Rucksack als Kopfkissen und neben ihm ein Knotenstock. Diese Erscheinung sei ihm natürlich verdächtig vorgekommen und so hätte er - ganz im Gegensatz zum Wirt - seine Pflicht getan und sei der Sache auf den Grund gegangen. Auf den folgenden, pflichtgemässen Weckruf, das Verhör und den angedrohten Verweis habe Herr K. mit Missbilligung reagiert - möglicherweise zurecht - denn er behauptete, ein vom Grafen bestellter Landvermesser zu sein. Selbstverständlich sei es Schwarzers formale Pflicht, diese Behauptung nachzuprüfen. Deshalb bitte er Herrn Fritz, sich in der Zentralkanzlei zu erkundigen, ob ein Landvermesser dieser Art tatsächlich erwartet werde, und ihm die Antwort umgehend zu übermitteln.
Es wurde still. Dort erkundigte sich Herr Fritz. Hier wartete man auf die Antwort. K. blieb derweil liegen. In ihrer Mischung aus Bosheit und Vorsicht vermittelte ihm Schwarzers Erzählung einen Eindruck von der «diplomatischen» Bildung, über die im Schloss selbst kleine Leute zu verfügen schienen. Auch an Fleiss fehlte es nicht: Die Zentralkanzlei führte einen Nachtdienst. Und gab offenbar sehr schnell Antwort, denn das Telefon klingelte bereits. Fritz’ Bericht allerdings schien sehr kurz, denn sofort warf Schwarzer den Hörer hin und erhob die Stimme.
» Ich habe es ja gesagt! « schrie er wütend. » Keine Spur von Landvermesser. Ein gemeiner, lügnerischer Landstreicher sind Sie, wahrscheinlich noch Schlimmeres. « Einen Augenblick fürchtete K., Schwarzer würde sich auf ihn stürzen und verkroch sich unter der Decke. Doch dann läutete das Telefon erneut. Und dieses Mal, so schien es, war das trillernde Geräusch besonders laut. Er streckte langsam den Kopf hervor. Es war unwahrscheinlich, dass der Anruf wieder K. betraf. Dennoch hielten alle inne. Schwarzer kehrte zum Apparat zurück und nahm ab.
» Ein Irrtum? Das ist mir äusserst unangenehm. Der Bürochef selbst hat sich gemeldet? Hm. Sonderbar. Wie soll ich das dem Herrn Landvermesser erklären?«
K. horchte auf. Das Schloss hatte ihn zum Landvermesser ernannt. Einerseits war das ungünstig für ihn. Es zeigte, dass man die Kräfteverhältnisse abgewogen hatte, dass man genug wusste, um den Kampf mit einem schelmischen Lächeln aufzunehmen. Andererseits unterschätzte man ihn. Er würde mehr Freiheiten geniessen, als er sich hatte erhoffen dürfen. Die Anerkennung seiner Landvermesserschaft war ein raffinierter Zug, aber wenn sie annahmen, ihn damit einschüchtern zu können, täuschten sie sich. Es schauderte ihn leicht, das war alles.
Schwarzer näherte sich mit beschlagener Miene, doch K. winkte ab. Er verzichtete auch darauf, nunmehr im Zimmer des Wirtes zu übernachten, nahm einzig den Schlaftrunk an und von der Wirtin das Waschbecken mit Seife und Handtuch. Um Ruhe brauchte er nicht zu bitten. Die Gäste drängten hinaus. Ihre Gesichter waren abgewendet, sodass er sie nicht wiedererkennen würde. Die Lampe wurde gelöscht. Und K., nur einmal von vorüberhuschenden Ratten gestört, schlief bis zum Morgen.
Nach dem Frühstück, das - wie seine gesamte Verpflegung - vom Schloss bezahlt werden sollte, wollte K. ins Dorf gehen. Doch der Wirt, mit dem er bisher nur das Notwendigste gesprochen hatte, trat mit stummer Bitte vor ihn hin. Sie setzten sich.
» Ich kenne den Grafen noch nicht «, sagte K. » Er soll gute Arbeit gut bezahlen, nicht? Wenn man - wie ich - Frau und Kind in weiter Ferne weiss, dann will man auch etwas heimbringen. «
» Was das betrifft, brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Niemand beklagt sich wegen schlechter Bezahlung. «
» Nun «, sagte K., » ich kann dem Grafen meine Meinung sagen. Den Frieden zu wahren, ist allerdings weit besser.«
Der Wirt sass am Rand der Fensterbank und sah K. mit grossen, angsterfüllten Augen an. Zuvor hatte er auf das Gespräch gedrängt, nun schien es, als wollte er weglaufen. Fürchtete er, über den Grafen ausgefragt zu werden? Oder fürchtete er die Unzuverlässigkeit des »Herrn«, für den er ihn hielt? K. musste ihn ablenken. Er blickte auf die Uhr.
» Bald werden meine Gehilfen ankommen. Wirst du sie unterbringen können?«
» Natürlich «, sagte er, dann sachter, » Ihre Gehilfen werden nicht im Schloss wohnen? «
K. stutzte. Verzichtete der Wirt so leichtfertig auf Gäste?
» Das ist noch nicht sicher «, sagte K., » erst muss ich erfahren, welche Aufträge zu erledigen sind. Sollte ich im Dorf arbeiten müssen, wird es vernünftiger sein, auch im Dorf zu wohnen. Ausserdem fürchte ich, dass mir das Leben oben im Schlosse nicht zusagen würde. Ich möchte frei sein.«
» Du kennst das Schloss nicht «, sagte der Wirt leise.
» Stimmt «, sagte K. » Kein verfrühtes Urteil. Vorläufig weiss ich nur, dass man es auf dem Schloss versteht, sich den richtigen Landvermesser auszusuchen. Womöglich gibt es dort weitere Vorzüge. « Er stand auf, um sich vom Blick des Wirtes zu lösen. Leicht war das Vertrauen dieses Mannes nicht zu gewinnen.
Als er den Stuhl unter den Tisch schob, fiel K. an der gegenüberliegenden Wand ein dunkles Porträt auf. Schon gestern hatte er es bemerkt, aus der Entfernung die Einzelheiten aber nicht erkennen können und geglaubt, das eigentliche Bild sei aus dem Rahmen entfernt worden und nur ein schwarzer Rückendeckel übriggeblieben. Wie sich jetzt zeigte, war es doch ein Bild. Ein Mann von fünfzig Jahren, sein Kopf so tief auf die Brust gesenkt, dass man kaum etwas von seinen Augen sah. Verantwortlich für dieses Absinken schien die hohe, lastende Stirn und die starke, hinabgekrümmte Nase. Der Vollbart war am Kinn eingedrückt und stand weiter unten ab. Die linke Hand lag gespreizt in den Haaren, hob den Kopf aber nicht mehr an.
» Wer ist das? « fragte K. » Der Graf? « Er trat vor das Bild.
» Nein «, sagte der Wirt, » der Kastellan. «
» Einen ansehnlichen Kastellan haben sie im Schloss, so scheint mir «, sagte K., » Schade, dass sein Sohn dermassen missraten ist. «
» Nein «, sagte der Wirt und drückte seine Stimme. » Schwarzer hat übertrieben. Sein Vater ist bloss ein Unterkastellan, sogar einer der untersten. «
» Dieser Lump « sagte K. lachend, aber der Wirt lachte nicht mit.
» Sein Vater ist dennoch mächtig. «
» Ach was! « rief K. » Du hältst doch jeden für mächtig. Sogar mich. «
» Dich «, sagte er, schüchtern, aber ernsthaft, » halte ich nicht für mächtig. «
» Also doch «, sagte K. bübisch. » Du verstehst es, zu beobachten. Unter uns: Mächtig bin ich tatsächlich nicht. Und auch den Respekt vor den Mächtigen teilen wir. Nur bin ich nicht so aufrichtig, das zuzugeben. «
K. klopfte dem Wirt auf die Schulter. Mit seinem weichen, bartlosen Gesicht wirkte er fast wie ein Junge. Wie war er zu der breiten, ältlichen Frau gekommen, die man, die Ellenbogen weit vom Leib gereckt, durch das Guckfenster der Küchentür hantieren sah? K. wollte nicht nachfragen, nicht das Lächeln verjagen, das seine Erleichterung verriet. Also verabschiedete er sich mit einem Nicken und trat in den Wintermorgen hinaus.
Das Tageslicht hatte den Nebel aufgerissen. K. sah das Schloss nun deutlich umrissen in der klaren Luft. Der Schnee verstrich die Formen. Oben schien er übrigens dünner zu liegen als hier im Dorf, wo sich K. nur mühsam vorwärtsschieben konnte. Hier reichte der Schnee bis unter die Simse der Fenster und auf den Dächern der Hütten lasteten schwere Schichten. Nur oben auf dem Berg ragte alles frei und leicht empor, so wenigstens schien es.
Insgesamt entsprach das Schloss K.s Erwartungen. Es war weder eine alte Ritterburg noch ein neuer Prunkbau, mehr eine ausgedehnte Anlage, die aus wenigen zweistöckigen und vielen eng aneinander stehenden, niedrigen Bauten bestand. Hätte man nicht gewusst, dass es sich um ein Schloss handelte, hätte man es auch für ein Städtchen halten können. Nur einen Turm konnte K. erkennen. Ob er zu einem Wohngebäude oder zur Kirche gehörte, war nicht auszumachen.
Den Blick zum Schloss gehoben, ging K. unbekümmert weiter. Als er aber näherkam, sickerte die Enttäuschung in seine Brust. Das Schloss war tatsächlich bloss ein bescheidenes Städtchen, aus Dorfhäusern zusammengetragen und nur dadurch ausgezeichnet, dass alles aus Stein gebaut war. Der Anstrich war längst abgeblättert und die Wände bröckelten. Flüchtig erinnerte sich K. an sein Heimatstädtchen. Es stand diesem angeblichen Schlosse in kaum etwas nach. Wäre es K. nur auf die Besichtigung angekommen, hätte es sich nicht gelohnt, die lange Wanderung auf sich zu nehmen. Da wäre es vernünftiger gewesen, wieder einmal in die alte Heimat zurückzukehren, wo er schon so lange nicht mehr gewesen war. K. verglich die Erinnerung an den heimatlichen Kirchturm mit dem Turm auf dem Berg. Jener Turm, der sich nach oben verjüngte, hochstiess mit seinen breiten, roten Ziegeln - ein irdisches Gebäude, aber ein Gebäude mit höherem Ziel als die niedrige Häusermenge, mit klarerem Ausdruck. Der Turm hier oben - der Turm eines Wohnhauses, wie sich inzwischen herausgestellt hatte - war ein einförmiger Rundbau, zum Teil gnädig mit Efeu bedeckt, dazwischen kleine Fenster, die in der Sonne aufstrahlten und einem söllerartigen Abschluss, dessen Mauerzinnen - wie von nachlässiger Kinderhand gezeichnet - unregelmässig und brüchig in den blauen Himmel zackten. Als würde ein trübseliger Bewohner, der gerechterweise im entlegensten Zimmer seines Hauses eingesperrt war, das Dach durchbrechen und sich erheben, um sich der Welt zu zeigen.
Wieder blieb K. stehen. Hinter der Dorfkirche - es war eigentlich nur eine Kapelle, scheunenartig erweitert, um die gesamte Gemeinde aufnehmen zu können - stand die Schule. Ein niedriges, langes Gebäude, merkwürdig provisorisch gebaut und doch altgedient. Rundherum ein Garten, der zum Schneefeld geworden war. Da kamen die Kinder durch die Tür. Sie schwatzten unaufhörlich, die Blicke gleichgerichtet. K. konnte nichts verstehen. Ihr Lehrer war jung und klein, seine Schultern schmal und sein Stand aufrecht. Er hatte K. aus der Ferne ins Auge gefasst - als einzigen Menschen auf der Strasse. K. grüsste.
» Guten Tag, Herr Lehrer «, sagte er.
Die Kinder verstummten sofort. Es musste dem Lehrer gefallen, dass sie auf seine Worte warteten. » Sie betrachten das Schloss? «, fragte er, sanftmütiger als K. erwartet hatte. Gleichzeitig schwang etwas Missbilligung in der Frage mit.
» Ja «, sagte K., » Ich bin erst seit gestern hier. Ich bin fremd. «
» Es gefällt Euch nicht? «, fragte der Lehrer.
» Wie? « fragte K. zurück und wiederholte die Frage: » Ob mir das Schloss gefällt? Warum nehmt Ihr an, dass es mir nicht gefällt? «
» Keinem Fremden gefällt es «, sagte der Lehrer.
K. wollte nichts sagen, was er bereuen musste, also lenkte er das Gespräch in eine andere Richtung.
» Kennen Sie den Grafen? «
» Nein «, sagte der Lehrer hastig und wandte sich ab. K. aber gab nicht nach: » Tatsächlich? Sie kennen den Grafen nicht?«
» Weshalb sollte ich ihn kennen? « sagte der Lehrer leise und ergänzte auf französisch: » Nehmen Sie Rücksicht auf die Anwesenheit unbescholtener Kinder. «
K. hielt den Blick, dann stellte er eine Frage: » Herr Lehrer - Dürfte ich Sie einmal besuchen kommen? Ich plane einen längeren Aufenthalt im Dorf und fühle mich etwas allein. Zu den Bauern gehöre ich nicht und ins Schloss wohl auch nicht. «
» Der Unterschied ist klein «, sagte der Lehrer.
» Mag sein «, nickte K., » aber das verändert meine Lage nicht. Könnte ich Sie einmal besuchen? «
» Ich wohne in der Schwanengasse beim Fleischhauer. «
Das war keine Einladung, dennoch sagte K.: » Gut, ich werde kommen. «
Der Lehrer nickte und zog mit den Kindern weiter. Ihr Kreischen schwoll wieder an und bald war die Gruppe in einem abfallenden Gässchen verschwunden.
K. war etwas zerstreut. Das Gespräch war mühsam gewesen. Zum ersten Mal seit seiner Ankunft fühlte er sich richtig müde. Die Anstrengung des Hinwegs schälte sich an die Oberfläche. Er war ruhigen Schrittes durch die Tage gewandert. Jetzt aber drückte die Erschöpfung, ausgerechnet jetzt. Er verspürte den Drang, neue Bekanntschaften zu suchen, aber jede neue Bekanntschaft würde die Müdigkeit verstärken. Wenn er sich in diesem Zustand nur schon zwingen konnte, seinen Spaziergang bis zum Eingang des Schlosses zu dehnen, durfte er zufrieden sein.
Also ging er, doch der Weg war lang. Die Strasse nämlich, die Hauptstrasse des Dorfes, führte nicht zum Schlossberg, sie führte nur heran, dann aber - wie absichtlich - bog sie ab, und wenn sie sich auch vom Schloss nicht entfernte, so kam sie ihm doch auch nicht näher. Mit jeder Biegung, die K. umschritt, wuchs seine Erwartung, dass die Strasse nun endlich einlenken möge und weil dieses Gefühl bestehen blieb, ging er weiter. Die Müdigkeit dämpfte jedes Zögern. Auch staunte er, wie weit das Dorf sich zog. Die Spur verteilter Häuser schien kein Ende zu nehmen. Immer wieder Häuschen mit vereisten Fensterscheiben, Schnee und Menschenleere. Irgendwann riss er sich los von der Hauptstrasse, schritt nach rechts in ein schmales Gässchen und sah seine Füsse in den Schnee sinken, der hier noch tiefer war. Bald kostete es Kraft, die Füsse hochzuziehen, der Schweiss breitete sich in sein Hemd und dann stand er plötzlich still und konnte nicht mehr weiter.
Nun, verlassen war er nicht, rechts und links standen Bauernhütten. Er formte einen Schneeball und warf ihn gegen eines der Fenster. Sogleich öffnete sich die zugehörige Eingangstür - es war während des ganzen Dorfwegs der erste Nachweis menschlicher Regung - und ein alter Bauer in brauner Pelzjoppe, den Kopf seitwärts geneigt, freundlich und schwach, trat hinaus.
» Darf ich ein wenig zu Euch kommen?« fragte K. » Ich bin sehr müde. «
Er konnte nicht hören, was der Alte sagte und bedankte sich, als ihm ein Brett entgegengeschoben wurde, auf dem ihm die Schritte ins Haus gelangen.
Die Stube lag im Dämmerlicht. K. sah zuerst gar nichts. Er taumelte gegen einen Waschtrog und entging dem Sturz nur knapp. Aus einer Ecke kam Kindergeschrei. In einer anderen Ecke wälzte der Rauch. K. stand wie in Wolken.
» Er ist betrunken «, sagte eine Stimme ohne Zuordnung.
» Wer seid Ihr? «, rief eine zweite, herrische Stimme und wandte sich dem Alten zu: » Warum hast du ihn hereingelassen? Man kann nicht jeden hereinlassen, der durch die Gassen schleicht. «
» Ich bin der gräfliche Landvermesser «, sagte K. und suchte sich so vor den Unsichtbaren zu verantworten.
» Ach, der Landvermesser «, sagte eine weibliche Stimme. Darauf folgte vollkommene Stille.
» Ihr kennt mich? « fragte K. schliesslich.
» Gewiss «, sagte die gleiche Stimme knapp. Dass man K. kannte, schien ihn nicht zu empfehlen.
Dann verflüchtigte sich ein Teil des Rauches und K. konnte sich besser zurechtfinden. In der Nähe der Tür wurde Wäsche gewaschen. Der Dunst aber war aus der anderen Ecke gekommen, wo in einem Holzschaff, so gross, wie K. noch nie eines gesehen hatte - es hatte etwa den Umfang von zwei Betten -zwei Männer badeten. Das Wasser dampfte dick. Überraschender allerdings war die rechte Ecke, wobei K. diesen Eindruck später anders benannt hätte. Durch eine Lücke in der Stubenrückwand kam, wohl vom Hof her, bleiches Schneelicht hinein und tauchte das Kleid einer Frau, die tief in der Ecke in einem hohen Lehnstuhl lag, in einen Schein wie von Seide. Sie trug einen Säugling an der Brust. Um ihre Füsse spielten ein paar Bauernkinder.
» Setzt Euch! « sagte einer der badenden Männer mit offenem, schnaufenden Mund unter dem Schnauzbart. Er zeigte, die Hand auf den Rand des Kübels gestützt, auf eine Truhe und spritzte K. dabei etwas Wasser auf das Wams. Auf der Truhe sass bereits, vor sich hindösend, der Alte, der K. hereingelassen hatte. Er war dankbar, sich endlich setzen zu dürfen. Und als er das getan hatte, kümmerte sich niemand mehr um ihn. Die Frau beim Waschtrog, blond und in jugendlicher Fülle, sang leise bei der Arbeit. Die badenden Männer stampften und drehten sich. Die Kinder wollten sich ihnen nähern, wurden durch die Wasserspritzer aber immer wieder zurückgetrieben. Die Frau im Lehnstuhl lag wie leblos, ihr Blick nicht auf dem trinkenden Kind, sondern unbestimmt in die Höhe gereckt.
K. sah es lange an, dieses stete, schöne, traurige Bild, dann aber musste er eingeschlafen sein, denn als er, von einer lauten Stimme aufgerufen, hochschreckte, lag sein Kopf an der Schulter des Alten. Die Männer hatten ihr Bad den Kindern überlassen und standen nun angezogen vor K.. Es stellte sich heraus, dass der vorlaute Bärtige der Mildere von beiden war. Der andere nämlich, nicht grösser als der Bärtige und mit glattrasiertem Gesicht, war ein stiller, langsam denkender Mann von breiter Gestalt. Den Kopf hielt er gesenkt.
» Herr Landvermesser «, sagte er, » Hier könnt Ihr nicht bleiben. Verzeiht die Unhöflichkeit. «
» Das hatte ich auch nicht vor «, sagte K. rasch, » Ich brauchte nur etwas Ruhe. Die habe ich bekommen und nun gehe ich. «
» Ihr wundert Euch wahrscheinlich über die dürftige Gastfreundlichkeit«, sagte der Mann, » aber Gastfreundlichkeit ist bei uns nicht Sitte. Wir brauchen keine Gäste. «
Erfrischt vom Schlaf und hellhöriger als zuvor, freute sich K. über die offenen Worte. Er bewegte sich durch den Raum, näherte sich der Frau im Lehnstuhl, dann wieder den Männern.
» Gewiss «, sagte K. » Gäste sind selten nützlich. Aber hier und da braucht man doch einen: Zum Beispiel mich, den Landvermesser. «
» Das weiss ich nicht «, sagte der Mann langsam. » Hat man Euch gerufen, so braucht man Euch wahrscheinlich, das ist wohl eine Ausnahme. Wir aber, wir kleinen Leute, halten uns an die Regel. Das könnt Ihr uns nicht verdenken. «
» Natürlich nicht «, sagte K., » und umso mehr habe ich Euch zu danken, Euch allen. « Und für jedermann unerwartet kehrte sich K. um und stellte sich vor die Frau im Lehnstuhl. Aus müden, blauen Augen blickte sie ihn an, ein seidenes, durchsichtiges Kopftuch reichte ihr bis in die Mitte der Stirn. Der Säugling schlief an ihrer Brust.
» Wer bist du? « fragte K.
» Ein Mädchen aus dem Schloss. « Sie sagte es mit Verachtung, die der Frage oder ihrer eigenen Antwort galt. Da wurde K. rechts und links von den Männern gepackt und schweigend, aber mit aller Kraft zur Tür gezogen. Der Alte klatschte in die Hände und die Wäscherin lachte neben den plötzlich lärmenden Kindern.
K. fand sich auf der Gasse wieder. Die Männer standen auf der Schwelle der Tür. Es fiel wieder Schnee, trotzdem schien es heller geworden zu sein.
» Wohin wollt Ihr gehen? «, rief der Bärtige. » Hier führt die Strasse zum Schloss, dort zum Dorf. «
K. antwortete ihm nicht und wandte sich stattdessen an den anderen Mann, der ihm trotz seiner Überlegenheit umgänglicher erschien.
» Wem darf ich für den Aufenthalt danken? «
» Ich bin der Gerbermeister Lasemann «, erklärte er, »zu danken aber habt Ihr niemandem. «
» Gut «, sagte K., » vielleicht werden wir uns einmal wiedersehen. «
» Das glaube ich nicht «, sagte der Mann.
Im selben Augenblick hob der Bärtige den Arm: » Guten Tag, Artur, guten Tag, Jeremias! «
K. wandte sich um. Tatsächlich: Auf der Gasse zeigten sich Menschen. Es waren zwei junge Männer von mittlerer Grösse und schmaler Statur. Beide trugen sie enge Kleider und gebräunte Gesichter - darin Spitzbärte, die schwarz aus ihren Kinnen stachen. Sie schienen vom Schloss zu kommen und liefen erstaunlich schnell. Ihre schlanken Beine wischten im Takt durch den Schnee.
» Was habt ihr vor? « rief der Bärtige.
Sie konnten sich nur rufend verständigen, so schnell waren sie.
» Geschäfte! « riefen sie lachend zurück.
» Wo? «
» Im Wirtshaus. «
» Dorthin gehe ich auch!« schrie K. auf einmal laut. Er hielt es für sinnvoll, von den Beiden mitgenommen zu werden. Ihre Bekanntschaft schien ihm zwar nicht sehr ergiebig, aber gute Wegbegleiter waren sie bestimmt.
Die Männer hörten K.s Worte, nickten jedoch nur und gingen vorüber.
K. blieb stehen. Seine Füsse waren tief in den Schnee eingesunken. Jeder Schritt erschien ihm als Mühsal. Der Gerbermeister und der Bärtige schoben sich langsam in den Spalt zurück, der die Tür ins Haus stach. Sie waren zufrieden, K. hinausgeschafft zu haben und liessen ihn mit einem letzten, messenden Blick alleine im Schnee stehen.
» Es wäre eine Gelegenheit zur Verzweiflung«, sagte er sich, » wenn ich zufällig und nicht absichtlich hier stünde. «
Da öffnete sich in der Hütte zu seiner Linken ein winziges Fenster. Alte, braune Augen erschienen. Der Rest des Gesichtes blieb verborgen.
» Dort steht er «, hörte K. eine zittrige Frauenstimme sagen.
» Es ist der Landvermesser«, sagte eine Männerstimme. Dann trat der Mann zum Fenster und fragte, K. auf wen er warte. Er war freundlich, aber offenbar darauf bedacht, dass auf der Strasse vor seinem Haus alles in Ordnung war.
» Auf einen Schlitten, der mich mitnimmt«, sagte K.
» Hier kommt kein Schlitten «, sagte der Mann, » hier ist kein Verkehr. «
» Aber das ist doch die Strasse, die zum Schloss führt «, wandte K. ein.
» Trotzdem, trotzdem«, sagte der Mann mit fester Stimme, » hier ist kein Verkehr. «
Dann schwiegen beide. Aber der Mann schien nachzudenken, denn das Fenster blieb offen. Feiner Rauch stob hinaus.
» Ein schlechter Weg «, sagte K., um das Gespräch nicht abbrechen zu lassen.
» Freilich «, bestätigte der Mann. Erneute Stille trat ein.
Nach einem Weilchen sagte er aber doch: » Wenn Ihr wollt, fahre ich Euch mit meinem Schlitten. «
» Wie nett «, sagte K. lächelnd. » Wieviel verlangt Ihr dafür? «
» Nichts «, sagte der Mann. K. zeigte sich verwundert. » Ihr seid doch der Landvermesser«, sagte der Mann erklärend. » Ihr gehört zum Schloss. Wohin wollt Ihr denn fahren? «
» Ins Schloss «, sagte K. schnell.
» Dann fahre ich nicht «, sagte der Mann sofort.
» Aber - Sie haben es selbst gesagt: Ich gehöre zum Schloss. «
» Mag sein «, brummte der Mann abweisend.
» Nun gut «, sagte K. » Bitte fahrt mich zum Wirtshaus. «
» In Ordnung «, sagte der Mann, » ich komme gleich mit dem Schlitten. «
Sein Verhalten schien nicht mit besonderer Freundlichkeit begründet zu sein. Eher erinnerte es an ein sehr eigensüchtiges, ängstliches, fast pedantisches Bestreben, den fremden Mann - den Landvermesser - fortzubringen. Das Hoftor öffnete sich und ein kleiner Schlitten für leichte Lasten glitt heran, ganz flach, ohne Sitz und von einem schwachen Pferdchen gezogen. Dahinter stand der Mann, gebückt, dünn, hinkend, mit magerem, rotem, verschnupftem Gesicht. Er war sichtlich krank - und trotzdem herausgetreten, um K. wegzubefördern. Als ihn K. darauf ansprach, winkte der Mann ab. Er erfuhr einzig, dass er der Fuhrmann Gerstäcker sei und dass er diesen unbequemen Schlitten genommen habe, weil er gerade bereitstand und die Präparation eines anderen Gefährtes zu viel Zeit in Anspruch genommen hätte.
» Setzt Euch «, sagte er und zeigte mit der Peitsche auf den Schlitten.
» Ich werde mich neben Euch setzen «, sagte K.
» Nein. Ich werde laufen «, sagte Gerstäcker.
» Warum denn? « fragte K.
» Ich werde laufen «, wiederholte Gerstäcker ruhig und bekam einen Hustenanfall, der ihn so schüttelte, dass er die Beine in den Schnee stemmen und sich mit beiden Händen am Schlittenrand festhalten musste. K. verzichtete auf weitere Widerrede. Er setzte sich auf den Schlitten.
Das Schloss, merkwürdig dunkel schon, das K. heute Abend zu erreichen gehofft hatte, entfernte sich wieder. Und als sollte ihm zum vorläufigen Abschied ein Zeichen gegeben werden, erklang ein Glockenton, ein fröhlich beschwingter Laut, der sein Herz einen Augenblick lang schütteln liess, so, als drohe ihm die Erfüllung seiner unsicheren Sehnsucht. Bald aber verstummte diese grosse Glocke und wurde von einem schwachen, eintönigen Glöckchen abgelöst, vielleicht bimmelte es noch oben auf dem Berg, vielleicht auch schon im Dorfe. Das Geklingel passte denn auch besser zum Schlitten und dem jämmerlichen, aber unerbittlichen Fuhrmann.
» Du «, rief K. plötzlich - die Kirche war schon zu sehen und der Weg zum Wirtshaus nicht mehr weit.
» Ich wundere mich, dass du mich auf eigene Verantwortung herumfährst. Darfst du das denn? «
Gerstäcker reagierte nicht. Er schritt schweigend weiter neben dem Pferdchen.
» He! « rief K.. Dann formte einen Schneeball und warf ihn Gerstäcker auf den Rücken. Nun blieb dieser stehen und drehte sich um. Als ihn K. aber nun so nahe bei sich sah, diese gebückte Gestalt, das rote, müde, schmale Gesicht mit verschiedenen Wangen, die eine flach, die andere eingefallen, den offenen, aufhorchenden Mund, in dem nur ein paar vereinzelte Zähne standen, musste er das, was er zuvor aus Bosheit gesagt hatte, aus Mitleid wiederholen, ob Gerstäcker nicht gestraft werden konnte, wenn er K. transportierte.
» Was willst du? « fragte Gerstäcker verständnislos, erwartete aber keine weitere Erklärung. Er rief das Pferdchen auf und sie fuhren weiter.